
Stefan Reichmann gilt als leidenschaftlicher Gestalter außergewöhnlicher Musikfestivals. Er hat mit dem Haldern Pop Festival am Niederrhein und dem Kaltern Pop Festival in Südtirol zwei der meistgeschätzten und authentischsten Festivalformate Europas ins Leben gerufen. Seit über vier Jahrzehnten prägt er mit kreativen Visionen, unabhängigem Anspruch und einem besonderen Gespür für Gastfreundschaft das kulturelle Leben weit über seine Heimatregion hinaus.
Wie gelingt es, aus kleinen, lokalen Veranstaltungen legendäre Begegnungsorte für internationale Künstler und Musikliebhaber zu schaffen? Und was treibt ihn an, immer wieder neue Wege für ein menschliches Miteinander durch Musik zu gehen? Darüber spricht Stefan Reichmann im folgenden Interview.
Munich – City of Music: Von Haldern Pop zu Kaltern Pop war der Weg rein namentlich und phonetisch nicht allzu weit. Aber du hattest sicherlich noch andere persönliche Beweggründe, ein Festival in Südtirol aufzuziehen, oder? Erzähl bitte mal!
Stefan Reichmann: Ehrlich gesagt, wollte ich kein Festival in Südtirol veranstalten. Dieser Ort war für mich und meine Familie ein wunderbarer Platz, um baden zu gehen, die Augen zu verwöhnen und Gustav Mahler zu verstehen. Als unsere Hoteleigentümerin im Winter manche Gäste googelte, entdeckte sie das Haldern Pop Festival, das ich mit Freunden seit den frühen Achtzigern am Niederrhein veranstalte. Sie meinte, das wäre doch auch etwas Gutes für Kaltern (Titelbild). Erst habe ich dankend abgelehnt. Doch dann hat mir ihr Sohn unverbindlich die Orte im Ort gezeigt. Da kam mir die Idee ein Festival des Experimentierens ins Auge zu fassen, etwas völlig Neues zu entwickeln und ich rief den Dirigenten André und den Chorleiter Ralf in Berlin an. Wir betraten Neuland in einer von Schönheit verwöhnten Landschaft und einem Dorf im vom Wetter verwöhnten Südtirol. Gehen, sehen, summen …
MCoM: Fiel es dir eigentlich schwer, die Südtiroler mit ihrer besonderen Mentalität zu „knacken“ und zu überzeugen, dass ihnen ein solches Festival doch gut zu Gesicht stünde?
SR: Es ist wie bei uns im Dorf. Man braucht Zeit und Geduld, um die Menschen für die Kunst zu begeistern. Zeit zu erkennen, dass sie uns Menschen zu einem gängigen Geländewagen machen kann, uns in Momenten fehlender Zuversicht in eine rasante Welt trägt, uns aus den Häusern lockt, um wundersame Gemeinsamkeiten zu entdecken. Ich habe für mich gelernt, dass die Dinge, die mich faszinieren, immer stärkere Impulse in mir hervorrufen, als mich ausschließlich mit Geld zu beschäftigen. Gute Geschichten leben von Stimmungen, Erkenntnis und können in Tönen, Motiven, Farben und Sprache durch unser Leben wandern. Sich ihnen zuzuwenden, ist die Aufgabe eines klugen und begeisternden Festivals. Ich entdecke viele wunderbare Dinge, die ich gerne weitererzählen möchte – als Vorschlag, als Idee, niemals dogmatisch.
Die Menschen in Südtirol definieren sich sehr über Ihre Arbeit, ihren Fleiß, sie mit Kunst und sich selbst zu verführen, ist eine geduldige Aufgabe.
MCoM: Wo liegen die Gemeinsamkeiten und wo die Unterschiede zwischen Haldern Pop und Kaltern Pop?
SR: Allein die 35 Jahre Vorsprung des Haldern Pop vom Lagerfeuer, Flaschenbier und der Musik aus der Konserve bis heute ist eine Entwicklung der kleinen Schritte, eine maßvolle Veränderung – ohne Traditionen zu zersplittern. Es muss ein beidseitiges Vertrauen aufgebaut werden. Da helfen die Zeit und das bewusste Tun. Du kannst ein Festival veranstalten, um Tickets zu verkaufen oder du verkaufst Tickets, um ein Festival zu entwickeln. Meine Festivalidee ist kein klassisches Geschäftsmodell. Es ist eher eine soziale Skulptur, bei der sich mit einem gewachsenen Vertrauen die Grenzen zwischen dem Publikum, den Künstler:innen, den Agierenden und dem dörflichen Umfeld zu einem Ganzen formieren. Ein sprudelndes, aufregendes Ganzes, nie absolutistisch und richtig, ein vertrautes Milieu mit einigen Ecken und Kanten, mutig und neugierig. Die Gemeinsamkeit beider Festivals ist die Tatsache, dass sie voneinander lernen. Das Kaltern Pop ist ein kleiner experimentierender Ort, wo wir auch vieles ausprobieren, so wie wir das auch in Haldern tun. Das gilt für die Kunst genauso wie für die Räume zwischen dem Publikum und den Bühnen. Es geht um ein neues Verhältnis von beidem.
Das Kaltern Pop Festival findet 2025 vom 23. bis 25. Oktober statt
MCoM: Kommen wir zum diesjährigen Kaltern Pop Festival. Auf welche Acts freust du dich ganz besonders, wen möchtest du den Fans besonders ans Herz legen?
SR: Ich freue mich auf alle, die Ende Oktober den Weg zu diesem Festival finden und auf den Theo vom Drescher Keller, Stefan und Peter im lustigen Krokodil, Pater Georg, die Familie Morandell, den Kirchturm, das Kloster, die Künstler, Besucher treffen. Ich verbinde das Vertraute mit dem Neuen, versuche nichts zu erwarten, um wundersam überrascht zu werden. Es werden wieder besondere Konzerte, weil einzigartig in ihren Konstellationen, stattfinden. Silvana Estrada freut sich auf die Zusammenarbeit mit Cantus Domus und einigen unserer Residenzmusiker. Cantus Domus wird mit Anne Müller etwas aufführen. Und bestimmt werden sich noch andere Dinge in der Euphorie dieser drei Tage ergeben.
MCoM: Es ist ja das zehnte Festival in Kaltern, Gratulation dazu erst einmal. Hättest du am Anfang gleich gedacht, dass es hier auch so zündet und funktioniert oder wie war dein Gefühl?
SR: Ich wusste nicht viel, was wirklich passieren wird. Ich wusste aber, dass diese Form des Konzipierens viele Jahre dauern wird, dass man Geduld haben muss, ein Festival mit einer Qualität auszustatten, einen vertrauten Ort zu entwickeln, um sich nicht in Quantitäten zu verirren. Ich sehe die positiven Entwicklungen immer deutlicher. Ein gutes Festival definiert sich über das Publikum und das passiert in Kaltern sehr eindrucksvoll.
MCoM: Was ist das Besondere an Kaltern? Warum sollten sich Menschen aus Deutschland unbedingt auf den Weg machen in den Süden?
SR: Ich glaube, dass dieses Festival einen wunderbaren Rahmen bieten kann, um eine genussvolle Aufmerksamkeit zu gewinnen. Eine Gelegenheit, um zu entdecken, dass Unruhe und Ruhe durchaus fußläufig voneinander gut existieren können, dass man sich hier nicht verlaufen kann, da es viel zu gehen, sehen und summen gibt.
Bezug zu München
MCoM: Wir sind ja ein Portal aus München und haben gesehen, dass mit Maxjoseph auch eine Münchner Band dieses Jahr im Line-up steht. Wie hast du die Jungs denn entdeckt?
SR: Ich habe sie von einem Festivalkollegen aus Franken empfohlen bekommen. Er macht das Weinturm Open Air, was auch ein ausgezeichnetes Festival ist. Wir tauschen uns gerne aus. Wenn man in Kaltern die Orte kennt, sucht man nach ihnen auch die Künstler aus, da gesellt sich das eine zum anderen und in diesem Fall wird es eine barocke Klosterkirche.
MCoM: Hast du sonst noch einen Bezug zu München und der hiesigen Musikszene? Erzähl doch bitte mal!
SR: Meine Tochter lebt in München. Mit den vielen Jahren in diesem Geschäft wächst dein Netzwerk und natürlich auch die Freundschaften. Da gibt es einige in München. Ich mag die Stadt, da man in ihr noch viele dörfliche Elemente entdeckt. Reste von Eierschalen werden hier bewusst nicht untergepflügt, das mag ich an dieser Stadt. Hier geht man für ein Helles an die Isar und die wirkt doch eher wie ein Bach als ein Fluss. München ist auch die Raststätte für mich auf dem Weg nach Südtirol und wieder zurück.
MCoM: In Haldern betreibst du ja die „Haldern Pop Bar“, ist etwas Vergleichbares auch in Kaltern geplant? Oder was steckt ansonsten bei dir in der Pipeline für 2025/26?
SR: In Kaltern gibt es das lustige Krokodil, das sich beim Festival in die Kaltern Pop Bar verwandelt. Ihr Eigentümer kann zudem sehr gut singen, was ich nicht kann und auch niemals planen würde zu können. Man soll den Dingen nicht ihr natürliches Gefälle nehmen. Es muss fließen, man kann nicht alles planen.
MCoM: Vielen Dank für das Gespräch!
Ulli 2. September 2025 | 17:35
Ein tolles Interview mit ehrlichen Antworten.
Wer schon mal beim Haldern Pop war und die ganzen tollen Acts gesehen und das friedliche Flair gespürt hat, der sollte unbedingt auch nach Kaltern kommen. Das Festival ist nicht so groß, geht aber auch über drei Tage und lässt dabei viel Zeit die tolle Landschaft zu erradeln und zu erwandern. Wir sind auf jeden Fall wieder dabei.